Samstag, 12. Dezember 2009

Progressive Protestanten protestieren


Von 1969 bis 1971 machte ich im VEB Waggonbau Dessau eine Ausbildung zum Industriekaufmann. In diesem Betrieb lernte ich einen hochintelligenten Kollegen (Jens Kramer) kennen mit dem ich über christlichen Glauben und Probleme in der DDR-Gesellschaft diskutieren konnte. Dieser junge Kollege gehörte zu den Gründern der Gruppe „Progressive Protestanten protestieren“ die in Dessau einige Furore machte. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir mit dem Begriff „evangelische Kirche“ leider hauptsächlich miefiger konservativer Puritanismus verbunden, uralte freudlose Kirchenlieder und alte verkniffene Frauen die am Sonntag in die Kirche gingen, dazu die rabenschwarzen Talare der Pfarrer, die allein schon durch ihre Farbe depressiv wirkten, dies im Gegensatz zu farbenfrohen Gewändern in den katholischen Kirchen. Mehrere Jugendgottesdienste 1970/71 in der Dessauer Johanniskirche, veranstaltet von der Gruppe „Progressive Protestanten protestieren“, gefördert von Pfarrer Alfred Radeloff und Diakon Peter Rauch (damals noch kein Pfarrer) begeisterten mich dagegen wegen der Fortschrittlichkeit der dort geäußerten Meinungen. Ich erinnere mich noch sehr gut an große Schilder in der Johanniskirche mit Schlagworten wie „Biafra“, die anklagen sollten. In Biafra gab es damals eine große Hungersnot der viele tausend Menschen zum Opfer fielen, ausgelöst durch politische Wirren (Separation), wo sowohl der Westen wie auch der Osten tatenlos zusahen.

Nun diese evangelische Kirche gefiel mir, die setzte sich wirklich, wie Jesus es will, für die Armen und Schwachen ein, legte den Finger in die Wunden der herrschenden Systeme, sowohl des kapitalistischen wie auch des in der DDR herrschenden Pseudo-Sozialismus. Es war sensationell, eine wahre Befreiung von jahrhundertealtem protestantischem Mief! Und dann allein diese tolle Losung: Progressive Protestanten protestieren! Also keine Duckmäuserei mehr und elender Opportunismus, evangelische Kirche war endlich wieder in der Gegenwart angekommen. Für konservative Kirchenleute war es allerdings ein Schock, daß statt Liedern aus dem evangelischen Gesangsbuch sogar die Rockband meiner damaligen Freunde Bernd Möser und Rainer Schmitt (mit dem ich ja wie bekannt in Dessau den Demokratischen Aufbruch in der Wendezeit gründete) Lieder der Rolling Stones, wie „I´m free“ in der Kirche spielten. Wir damaligen Jugendlichen allerdings waren begeistert und von mal zu mal wurden es mehr Jugendliche welche die progressiven Gottesdienste in der Dessauer Johanniskirche besuchten. Dann das abrupte Ende, der Staatsmacht in der DDR paßte natürlich nicht, daß außerhalb der FDJ sich eine alternative Jugendszene entwickelte und schon gar nicht gönnte sie es der Kirche, daß Jugendliche sich in fortschrittlichen christlichen Jugendgruppen engagierten.

Der Leitspruch, daß progressive Protestanten protestieren sollten, der hat nichts von seiner Gültigkeit verloren. Auch in unserer heutigen Gesellschaft sind Christen dazu aufgerufen lautstark zu protestieren wenn es gilt gegen Mißstände verschiedenster Art in Kirche und Gesellschaft anzugehen. Seit der Wende hat es leider einen sehr kräfigen Ruck zum Konservativismus auch in den Kirchen gegeben, dies hängt eventuell mit der jetzigen Staatsnähe (z.B. Eintreibung der Kirchensteuern durch den Staat) zusammen. Auch läßt die frühere Toleranz gegenüber anderen Konfessionen auf unterer Kirchenebene stark nach, jedenfalls habe ich diesen Eindruck. Die ökumenische Öffnung war meiner Meinung nach zu DDR-Zeiten unter dem Eindruck der gemeinsamen Unterdrückung durch den SED-Staat entschieden größer. Ein Beispiel! Dieser Tage wollte ich kleine Mini-Krippenfiguren, von denen ich an die hundert kleine Beutelchen von einem orthodoxen Kloster (um dieses ein wenig finanziell zu unterstützen) erworben hatte einem evangelischen Kindergarten zukommen lassen. Dies gestaltete sich schwierig, das heißt bisher gar nicht, denn ich als Schenker war nicht gewillt erst dieses Spielzeug vom für den Kindergarten zuständigen Pfarrer und der Leiterin des Kindergartens auf „theologische“ und „pädagogische“ Unbedenklichkeit (?) prüfen zu lassen. Von meiner Schenkungsabsicht informiert teilte mir der Herr Pfarrer mit: "…Unabhängig davon finde ich es sehr nett, dass Sie sich um Spielzeug für die Kinder unseres Kindergartens kümmern. Danke. Ob sich orthodoxes Spielzeug theologisch mit den Inhalten unseres evangelischen Kindergartens vereinbart, sollte im Zweifelsfall immer zuerst mit mir besprochen werden. Ob es pädagogisch brauchbar ist, kann Frau ….. (Kindergartenleiterin) besser einschätzen…"

Daß diese Berührungsängste gegenüber anderen christlichen Kirchen oder deren Produkten, wie eben besagten Krippenfigürchen, nach so vielen Jahren Ökumene noch bestehen, dies erstaunte mich schon sehr.

Anmerkung zu den orthodoxen Kirchen für kirchengeschichtlich nicht informierte Leser (Auszüge von Wikipedia):

Die Orthodoxe Kirche ist mit ca. 1,3 Millionen Gläubigen die drittgrößte
christliche Konfession in Deutschland.
Einige orthodoxe Kirchen arbeiten bereits seit 1974 in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) mit, andere traten ihr später bei. Die kanonischen östlich orthodoxen Kirchen sind seit einigen Jahren in einer gemeinsamen Delegation mit fünf Mitgliedern (und fünf Stellvertretern) über die KOKiD vertreten, die altorientalischen Kirchen sind jede für sich Vollmitglied. Die orthodoxen Kirchen stellen auch eines der fünf Mitglieder des Vorstands und arbeiten auch in der Ökumenischen Zentrale mit einer Referentin und in der theologischen Kommission (DÖSTA) mit. Ebenso sind die orthodoxen Kirchen an den meisten regionalen und lokalen Arbeitsgemeinschaften der ACK beteiligt.

Kommunique des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD):

Empfehlungen zur ökumenischen Zusammenarbeit
Stellungnahme der EKD zum Bericht der Sonderkommission orthodoxe Mitarbeit im ÖRK
21. November 2003
Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) hat in seiner Oktobersitzung eine Stellungnahme zum Abschlussbericht der „Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK)“ verabschiedet, die seit Donnerstag, 20. November, im Internet veröffentlicht ist. Darin gibt der Rat nach einer "kritischen Würdigung" des Berichtes Empfehlungen für die weitere Arbeit im ÖRK.
Die Vollversammlung des ÖRK hatte 1998 die "Sonderkommission zur orthodoxen Mitarbeit im ÖRK" eingerichtet, die Anfang September 2002 ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Die Mitgliedskirchen wurden gebeten, diesen Bericht zu erörtern und ihre Ergebnisse an den ÖRK zu übermitteln.
Die Stellungnahme des Rates der EKD ordnet die aktuellen Herausforderungen der Zusammenarbeit im ÖRK geschichtlich ein und beschreibt die grundlegenden theologischen Differenzen zwischen orthodoxen und evangelischen Kirchen. In vier Kapiteln werden Wesen und Bestimmung der Kirchen, Fragen des gemeinsamen Gottesdienstes, soziale und ethische Anliegen und Organisation und Entscheidungsstrukturen des ÖRK entfaltet. Besondere Berücksichtigung fand dabei auch das vorgeschlagene Konsensverfahren. Abschließend gibt die Stellungnahme Empfehlungen zur zukünftigen Zusammenarbeit im ÖRK.
Der Generalsekretär des ÖRK, Konrad Raiser, hatte die Stellungnahme auf der Tagung der EKD-Synode Anfang November in Trier gewürdigt. Die EKD sei eine der ersten Mitgliedskirchen, die offiziell Stellung zum Abschlussbericht der Sonderkommission genommen habe. "Ich bin sehr dankbar für die sorgfältige und abwägende Erörterung der durch den Bericht aufgeworfenen Fragen und für die Empfehlungen zur Weiterarbeit", so Raiser in seinem Grußwort.
Die Stellungnahme des EKD-Rates und das Grußwort von Konrad Raiser sind im Internet nachzulesen.Hannover, 21. November 2003
Pressestelle der EKD

Der obige Scan zeigt ein Originalblatt der Leitlinien der damaligen Gruppe „Progressive Protestanten protestieren“, welches ich - Sammler wie ich nun mal bin - bis heute aufgehoben habe.

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